Um die Antwort vorweg zu nehmen: Ich halte solche Sozialexperimente für zutiefst klassistisch und für völlig ungeeignet, um die Lebensrealitäten von fast 14 Millionen Armutsbetroffenen in Deutschland nachzuempfinden. Im Folgenden zeige ich auf und begründe, warum ich ein Sozialexperiment: “Ich lebe jetzt ein paar Wochen oder Monate vom Bürgergeld!” für falsch und letztendlich auch gefährlich halte.

Alle paar Monate und insbesondere, wenn erneut über die Höhe und Angemessenheit von Sozialleistungen diskutiert wird, kommt irgendwer auf die Idee vom Bürgergeld zu leben und berichtet anschließend davon im Internet.

Vermutlich mit der aufrichtigen Absicht verstehen zu wollen, was relative Armut in Deutschland bedeutet und wie man sich damit fühlt.

Soweit so gut.

Links eine stylische moderne Küche. Rechts eine alte Küche mit defekten Haushaltsgeräten.

Im Ergebnis wird dann festgestellt, dass es zwar knapp ist, die Preise und Angebote verglichen werden müssen und man nicht immer alles kaufen kann, was man gerne möchte – aber verhungern tut man damit natürlich nicht. Es lässt sich davon leben. Und als angedachte Übergangslösung ist es völlig ausreichend!

Jetzt möchte ich ein solches Sozialexperiment ein bisschen ins richtige Verhältnis setzen:

Die Ausgangssituation

Der Mensch oder die Familie, die ein solches Sozialexperiment macht, haben in der Regel ein sonst deutlich monatliches höheres Einkommen zur Verfügung als Menschen im Sozialleistungsbezug. Logisch, sonst bräuchten sie dieses Experiment nicht durchführen. Daraus folgt, dass zu Beginn des Experiments zumeist auf einen vollen und funktionstüchtigen Haushalt und Vorräte (auch Putz- und Hygieneprodukte) zurückgegriffen werden kann. Eine Grundausstattung an Lebensmitteln ist vorhanden, wie z.B. Gewürze und Öle. Ebenso eine funktionierende, vielleicht sogar eine neuwertige Küche samt Haushaltsgeräten, die voraussichtlich in den nächsten Monaten erst mal nicht ersetzt werden muss.

Bei Menschen im Sozialleistungsbezug sieht die Welt meistens anders aus. Sehr viele hatten ein Leben vor der Armut und konnten vielleicht noch eine ganze Weile davon zehren. Doch irgendwann ist das aufgebraucht und es ab diesem Zeitpunkt zum entscheidenden Punkt kommt:

Dauer Sozialexperiment vs. Realität

Ein solches Sozialexperiment geht meistens über einen Monat, manchmal auch zwei oder drei Monate. Doch selbst wenn es ein Jahr gehen würde, kann es nie wirklich die Realität von Millionen Armutsbetroffenen in diesem Land widerspiegeln. Dafür müsste ein solches Sozialexperiment schon über mehrere Jahre gehen. Was ist, wenn nicht mehr aus den besseren alten Zeiten gezehrt werden kann? Alle Vorräte aufgebraucht sind, die Schuhe Löcher haben, die Kleider verschlissen sind oder nicht mehr passen? Der Kühlschrank, die Waschmaschine, das Bett, der Schrank, das Handy oder der Herd kaputt gehen? Die Stromnachzahlung aufgrund der massiv gestiegenen Preise ins Haus flattert und keine Ersparnisse mehr da sind? Die Brille kaputt ist oder sonstige zusätzliche medizinische Leistungen anstehen, die nicht von der Krankenkasse übernommen werden?

Ganz zu schweigen von Posten, die i.d.R. jährlich anfallen, wie z.B. Steuern oder Versicherungen. In einem kurzen Experiment können diese nicht berücksichtigt werden, wenn sie nicht gerade in diesen Monaten anfallen.

Alle diese Punkte sind in den Sozialexperimenten nur selten Thema. Vielleicht rührt das auch ein Stück daher, weil Sozialleistungen auch politisch nur als Übergangslösung gedacht sind und so nahezu ausschließlich kommuniziert werden. Langfristige Ausgaben werden da nur sehr bedingt einkalkuliert und somit auch in Experimenten meist vergessen. Die Realität der Dauer des Leistungsbezugs ist oftmals leider eine andere.

Reparaturen und Neuanschaffungen
Fehlkalkulation im Sozialexperiment

Ein Großteil der Sozialleistungsbeziehenden ist langfristig oder sogar dauerhaft in dieser Situation. Der Grund liegt nicht in der Verweigerung, in der Dummheit oder Unfähigkeit oder, weil sie keinen Bock auf Arbeit haben. Nein. Knapp 1,6 Millionen davon sind minderjährige Kinder, rund 1,1 Millionen Rentner*innen und chronisch kranke Menschen, die zeitweise oder dauerhaft voll erwerbsgemindert sind und mit Grundsicherung ergänzen, Erwerbslose, die arbeiten und ihren Lohn mit Bürgergeld ergänzen müssen, Alleinerziehende, die keine Chance auf einen Kita oder Kindergartenplatz bekommen, Menschen ohne Arbeitserlaubnis und pflegende Angehörige. Alle diese Menschen müssen über Jahre von den Regelsätzen leben und eben nicht nur für ein paar Monate.

Sie müssen vom Regelsatz ihr gesamtes Leben auf unbestimmte Zeit bestreiten. Eben alle Kosten, die nicht nur für den Moment die pure Existenz, im Sinne eines Daches über dem Kopf, fließendes Wasser, Heizung und genug Essen sichern.

Irgendwann müssen Waschmaschine oder Kühlschrank ersetzt werden, es braucht neue Kleidung und Schuhe, das Handy gibt den Geist auf, der Klodeckel oder das Bett gehen kaputt, renoviert könnte auch mal wieder werden, usw… und da bin ich noch nicht an dem Punkt angekommen, wo es für viele Armutsbetroffene schon in den Luxusbereich hinein geht: Friseurbesuche, ins Erlebnisbad, ins Kino, den Zoobesuch, die Zahnreinigung oder ein entspannter Restaurantbesuch. Hinzu kommen die Feierlichkeiten: Weihnachten, Geburtstage und anderes. Diese genannten Punkte müssten in einem Bürgergeld-Experiment realistisch einkalkuliert werden. Wird es aber leider nicht und somit Fehlkalkulationen vorprogrammiert sind.

Wo wohnst du? Wie wichtig die Standortfrage ist Trier vs Berlin

In Deutschland haben wir alle die gleichen Chancen und Voraussetzungen? Schön wäre es. Schauen wir uns nur ein einziges Beispiel an: Mobilität. Im Regelsatz für einen alleinstehenden Erwachsenen sind 45,02 Euro für Verkehr vorgesehen. Bundesweit einheitlich. In Berlin käme ich, wenn ich nicht gehbehindert wäre und nur den ÖPNV nutzen würde, super klar damit. Das derzeit monatliche befristete Sozialticket kostet aktuell neun Euro im Monat. Ein Blick in den Westen nach Trier zeigt andere Kosten: Hier kostet das Monatsticket 101,00 Euro und es gibt dort kein Sozialticket (siehe auch Highlight der Woche 11/23)

Berlin - Mobilität 9€Trier - Mobilität 101€

Und so sieht es in sehr vielen Kommunen in Deutschland aus. Entscheidend bei der Betrachtung, ob die Höhe des Bürgergeldes angemessen ist und zum Leben reicht, ist somit auch der Standort. Spielt er in den Sozialexperimenten eine Rolle? NEIN!

Gesundheit im Sozialexperiment

Ein weiterer Grund in der Kritik dieser Sozialexperimente sind die Protagonistinnen oder Protagonisten selbst. Ein Blick zeigt mir auf, dass sie weitestgehend gesund wirken, zumindest jedoch keine größeren Alltagseinschränkungen aufgrund ihrer Gesundheit erwähnen.

Es ist ein Unterschied, ob ich von einem knapp bemessenen Bürgergeld aufgrund von Krankheiten, Lebensmittel-Unverträglichkeiten oder Allergien eine besondere Ernährung oder regelmäßig spezielle Hygieneprodukte und Kosmetika benötige.

Gesundheit im Sozialexperiment wird nicht berücksichtigt

Hinzu kommen Zuzahlungen für Medikamente und Hilfsmittel, welche die Krankenkasse nicht oder nur teilweise übernimmt. Es ist ein Irrglaube zu denken, dass Sozialleistungsbeziehende und chronisch Erkrankte von der Mindestzuzahlung bei der Krankenkasse befreit sind. Die gesetzliche Belastungsgrenze müssen auch arme Menschen zunächst leisten.

Es sind andere Kosten für die Mobilität, wenn ich gehbehindert bin, als wenn ich keine Einschränkungen habe und alle Möglichkeiten nutzen kann. Und wenn ich pflegebedürftig bin, stehe ich nochmals vor ganz anderen Herausforderungen. Alles Punkte, die in solchen Sozialexperimenten nicht berücksichtigt werden.

Kranke und Rentner*innen vs. der faule Erwerbslose

Allerspätestens an dieser Stelle kommt öfters: “Ja für Rentner*innen und Menschen, die wirklich nicht mehr arbeiten können, sollte es mehr geben.”

Das funktioniert nicht! Bürgergeld ist für Menschen, die noch arbeiten können! Und diese sollen bloß keinen Anreiz bekommen, nicht mehr arbeiten zu wollen!

Die sollen sich bewegen!

Sozialexperiment _ Leisungsempfänger werden gegen chronisch Kranke und Rentner ausgespielt

Jetzt kommen wir zur Krux. Das in Deutschland geltende Existenzminimum, das nun nach der Einführung des Bürgergeldes regelmäßiger der Inflation und Preissteigerungen angepasst werden soll, gilt für fast alle Sozialleistungsbeziehende.

Die Höhe des Regelsatzes gilt beim Bürgergeld und der Grundsicherung im Alter und bei der vollen Erwerbsminderung. Bei den Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sind die Regelsätze zwischen 12,5 Prozent und 18 Prozent niedriger angesetzt. So erhält eine erwachsene Person 410 Euro im Vergleich zum Bürgergeld in Höhe von 502 Euro. Eine eigentlich noch viel größere Schande, aber das ist ein anderes Thema.

Quelle: Flüchtlingsrat Bayern

Es gibt also keine Sonder- oder Extraleistungen für Armutsrentner*innen oder erwerbsunfähige chronisch kranke Menschen. Und ganz davon ab: Hat nicht jeder Mensch in einer Gesellschaft, in der wir es uns leisten könnten, ein Recht auf ein Leben in Würde?

Wir müssen uns als Gesellschaft doch eine Frage stellen

Wonach wollen wir unsere Sozialsysteme ausrichten und wonach die Höhe der Regelsätze festlegen? Nach den Einzelfällen, die sich in Allem verweigern, nehmen, was sie mit möglichst wenig Aufwand abfangen können und die es, egal mit welchem System, immer geben wird? Oder nicht doch nach dem schwächsten Glied in der Kette? Nach den Menschen, die aus eigener Kraft dauerhaft keine Chance haben, etwas an der eigenen Einkommenssituation zu ändern und auf die Hilfe der Solidargemeinschaft angewiesen sind?

So heißt es doch : “Ein Team ist immer nur so stark wie das schwächste Mitglied.” Ich bin eine Teamplayerin und Du?

Doch wir schweifen ab, kommen wir zum:

Resümee und die Gefahr sozialer Experimente

Nun habe ich ausführlich begründet, warum ich Experimente dieser Art allein aufgrund der Fakten für völlig ungeeignet und für nicht vergleichbar mit der Realität halte.

Allerdings habe ich noch nicht über die Punkte geschrieben, wie sich die Abhängigkeit von Sozialleistungen auf die Psyche eines Menschen auswirkt. Hierbei geht es um die Anträge selbst, die ständig zu stellen sind – selbst dann, wenn sich nichts geändert hat.

Angst vor dem Briefkasten - psychische Belastung Erwerbsloser

Es geht darum, sich bei den Ämtern vor Fremden “nackt machen zu müssen” und so ziemlich alles von sich preiszugeben, ständig Angst vor dem Briefkasten zu haben, weil man nicht weiß, ob doch noch ein Rückforderungsbescheid kommt oder Gelder eingestellt werden. Man stelle sich als Nicht-Betroffener mal vor, die eigene Existenz nahezu täglich vor dem Staat und den Mitmenschen rechtfertigen zu müssen. Nicht schön, oder? Mein Therapeut würde hier von hoch toxischen Beziehungen sprechen, die krank machen und die ich so schnell wie möglich beenden sollte. Tja, nun.

Doch warum denke ich, dass solche Experimente auch potentiell gefährlich sind?

Nun, ein solches Experiment füttert immer Klischees: “Sozialleistungsbeziehende können nicht richtig mit Geld umgehen. Man muss ihnen eben zeigen wie das geht. Sie geben ihr Geld ja eh nur für Zigaretten und Alkohol aus, da bleibt eben dann nichts mehr zum Essen.

Im Prinzip kann man dann auch gleich sagen, wir Betroffenen sind einfach alle nur zu dumm, wollen nicht und jammern nur.

Bürgergeld - Alkohol - Zigaretten

Armutsbetroffenenen wird damit automatisch misstraut und sie werden abgewertet, ob gewollt oder nicht. Es passiert alleine schon mit der Tatsache, dass jemand (deutlich) Privilegiertes der Meinung ist, dass das ohne Probleme geht. Und wie, wird dann ausführlich und natürlich mit den besten Absichten so öffentlich wie möglich erklärt. Und das ist dann das Maß aller Dinge. Sie erwähnen dabei allerdings nicht, dass sie jederzeit aus ihrem Experiment aussteigen können.

Diese Sozialexperimente bewirken oftmals, dass ein ziemlich verzerrtes Bild von Armut in Deutschland gezeigt wird und über Jahrzehnte medial aufgebaute Klischees gefüttert werden. Sie rücken Millionen Menschen in ein schlechtes und schlicht unwahres Licht und treiben sie weiter in die Stigmatisierung und Isolation. Sie sind ein Brandbeschleuniger für die gesellschaftliche Spaltung und Entfremdung und sie befeuern eine Gesellschaft voller Misstrauen, in der nur Leistung zählt, die sich mit Geld messen lässt. Miteinander, Verständnis, Respekt, Empathie und ein solidarisches, hilfsbereites Miteinander? Bringt alles kein Cash!

Wollen wir das? Wollen wir in einer solchen Welt leben?

Schließlich frage ich mich also, wozu wir solche Experimente eigentlich überhaupt brauchen und was sie bringen sollen?

Um wirklich offen und ehrlich über Armut in Deutschland zu sprechen und diese zu bekämpfen? Offensichtlich nicht. Wäre es nicht einfacher, Betroffene selbst zu Wort kommen zu lassen, zu befragen, ihnen zuzuhören und zu glauben? Ihre Erfahrungen ernst zu nehmen, für sie einzustehen und den Rücken zu stärken, mit dem Wissen, dass es jeden und jede jederzeit von heute auf morgen treffen kann?

Sind da nicht fast 14 Millionen Betroffene genug Experiment?

Autorin Sasa Zatata

Bist du ein Teamplayer? In welchem Team?