Seit 1995 treffen sich Akteurinnen und Akteure aus Politik, Wissenschaft, Gesundheitswesen, Praxis und Selbsthilfe auf dem Kongress „Armut und Gesundheit“ über mehrere Tage, um sich über die gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland auszutauschen.

Der Fokus liegt auf den Gesprächen über neue Strategien, Lösungsansätzen, aktuellen Forschungsergebnissen und Erfahrungen. Der Kongress schreibt über sich: „Mit dem Engagement aller Akteur*innen und Teilnehmenden des Kongresses erfährt eine heterogene Gruppe von Menschen eine Lobby, die oftmals wenig Unterstützung erhält“.

Highlight Woche 12 Sozialpolitik ist Demokratiepolitik

Vorweg: Es ist gut, dass es diesen Kongress gibt, in der sich bei über 100 Veranstaltungen und fast 2.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich austauschen und vernetzen können. Wir von #ArmutVerbindet befürworten jeden Blick über den Tellerrand hinaus und bedanken uns für diesen Kongress.

Bundespräsident Steinmeier hält Eröffnungsrede

Am 21. März eröffnete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Kongress und stellte in seiner Rede den Zusammenhang zwischen dem sozialen Status und Gesundheit dar.

Er erkennt in der gesundheitlichen Ungleichheit zwischen Arm und Reich die Herausforderung unseres Sozialstaates und mahnt an:

„Sie berührt nicht nur unser Gerechtigkeitsempfinden, sondern berührt den Zusammenhalt der Gesellschaft und damit das, was Grundlage und Voraussetzung von jeder gelingenden Demokratie ist“.

Steinmeier erwähnt und erkennt die Armut in unserem Land und deren Folgen daraus. Er erzählt aus seinen Begegnungen und von Berichten, die er gelesen hat.

Diesen Erzählungen ist nichts hinzuzufügen. Er fährt fort und dankt denjenigen, die ihre ehrenamtliche Kraft für Menschen in Armut, in der Obdach- und Wohnungslosigkeit und in der Geflüchtetenhilfe aufbringen.

Der Kongress wurde u.a. auf Twitter präsentiert. Auch Steinmeier.

Dieses verkürzte Zitat stieß via Twitter in den Kommentaren, vorsichtig ausgedrückt, auf viel Unbehagen. Ein Kommentar beschrieb es so:

„Warme Worte kommen aus der Richtung immer wieder – und bleiben immer wieder folgenlos.“

Eine Userin stellt fest, dass „in der Regel, die gehört werden, die am lautesten schreien und die größte Lobby haben. Das sind meist nicht Bedürftige, Care-Arbeiter (wie #pflegendeAngehörige) & Co. Die haben dafür keine Kraft (mehr).

Und ganz kurz und knapp wurde kommentiert: „Worte ohne Wirkung“.

Stellen wir das Zitat aus seiner Rede mal komplett dar:

„Nur ein Staat, der die Stimmen der Ärmsten und Verwundbarsten nicht überhört, wird dauerhaft auf Akzeptanz stoßen.“ Bundespräsident Steinmeier auf dem @kongress_AuG . „Sozialpolitik ist Demokratiepolitik“.

„Sozialpolitik ist Demokratiepolitik. Nur ein Gesellschaftsmodell, das Zusammenhalt unter immer wieder veränderten Bedingungen herzustellen versucht, ein Staat, der die Stimme der Ärmsten und Verwundbarsten nicht überhört, nur ein solcher Staat und eine solche Politik werden dauerhaft auf Akzeptanz stoßen.“

Recht hat er. Unser Bundespräsident Steinmeier. War das Unbehagen auf Twitter berechtigt?

Minimalste Gesundheitspflege in den Grundsicherungen

Ja, sagen wir von #ArmutVerbindet. Das Hören beginnt für viele Arme damit, dass auf Worte Taten folgen müssen. Die Armutsgefährdungsquote stieg seit der Agenda 2010 und mit Hartz IV (2005:14,7%; 2021: 16,6%) signifikant an. Steinmeier war übrigens ein Befürworter der Agenda 2010.

Bis heute sind die Regelsätze in den Grundsicherungen im Bürgergeld (Hartz IV), bei den Grundsicherungen im Alter, bei den Erwerbsgeminderten und im Asylbewerberleistungsgesetz unter einem lebenswerten Existenzminimum und künstlich kleingerechnet.

19,16€ für Gesundheitspflege im Monat

Für die Gesundheitspflege werden den Armen in den Grundsicherungen gerade mal monatlich 19,16 Euro zugestanden. Sehr viele Gesundheitsleistungen, wie Medikamente oder ärztliche Leistungen werden über die Krankenkassen nicht mehr übernommen. Diese müssen dann aus eigener Tasche bezahlt werden. Die Zuzahlungen zu anderen Leistungen, wie Physiotherapie, Krankenhausaufenthalte, Medikamente auf Rezept oder sonstige Therapien müssen irgendwie gewuppt werden.

Auch, wenn eine Zuzahlungsbefreiung bei der zuständigen Krankenkasse beantragt werden kann, sind die Belastungsgrenzen (§ 62 SGB V) bei jährlich 60,24 Euro (1% bei chronischen Erkrankungen oder Pflegegrad 3-5), bzw. 120,48 Euro (2% ohne chronische Erkrankung oder Pflegegrad) für arme Menschen oftmals eine Hürde. Wird aufgrund einer Erkrankung eine kostenaufwändige Ernährung benötigt, kann nach ärztlicher Bescheinigung ein kleiner Mehrbedarf beim Jobcenter beantragt werden. 19 Euro im Monat sind dürftig.

Gesundheit – Verzicht auf wichtige Medikamente

Eine Zuzahlung für eine 6-malige Physiotherapie kostet aktuell 25,84 Euro. Bei akuten Problemen oder nach einer Operation hat man durchschnittlich zwei Termine in der Woche. Damit sind die 19 Euro um 6,84 Euro schon überschritten. Ein Magen-Darm-Infekt oder eine Erkältung darf dann in diesem Monat nicht mehr hinzukommen, da diese Mittel kaum mehr rezeptpflichtig sind oder auf jeden Fall zuzahlungspflichtig sind. Eine Umfrage in Apotheken hat 2019 ergeben, „dass Patienten, die eine Zuzahlung leisten müssen, entweder das Einlösen des Rezepts verschieben oder sogar auf das verschriebene Medikament verzichten“. 75 Prozent der Patienten verschieben die Einlösung des Rezepts und knapp 60 Prozent verzichten gar auf das Medikament, wenn sie sich die Zuzahlung nicht leisten können.

Besonders betroffen seien laut der Befragung mit 69 Prozent Rentnerinnen und Rentner, aber auch „bei Chronikern, Auszubildenden, Studenten, Sozialleistungsempfängern und jungen Eltern ist das Geld offenbar zu knapp, wie ein Viertel der Apotheker:innen und PTA angab“.

Besonders betroffen seien laut der Befragung mit 69 Prozent Rentnerinnen und Rentner, aber auch „bei Chronikern, Auszubildenden, Studenten, Sozialleistungsempfängern und jungen Eltern ist das Geld offenbar zu knapp, wie ein Viertel der Apotheker:innen und PTA angab“.

Ich höre schon die Stimmen: „Ja, aber man kann sich ja befreien lassen“. Korrekt, sofern, wie oben beschrieben, diese Summe bereits aufgebracht wurde und sofern wir jegliche Zuzahlungen, die nicht mehr übernommen werden – sogenannte Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) – ignorieren. Zu den Individuellen Gesundheitsleistungen gehören teilweise auch Krebsvorsorgeuntersuchungen, auf die dann verzichtet werden.

Armut und Gesundheit gehören zusammen

Armut und Gesundheit gehören zusammen und zusammen gedacht. Bereits seit den 60er Jahren ist in Studien erforscht, dass Armut ein entscheidender Faktor bei der Gesundheit ist. Armut macht krank. Und mit der Armut kommt die Benachteiligung, die oftmals schon mit der Geburt beginnt.

Wer in Armut aufwächst, wächst mit einer Benachteiligung auf: Schlechtere Wohnbedingungen, niedriges Haushaltseinkommen oder Grundsicherungen, kaum sozio-kulturelle Teilhabe, wenig Geld für gesunde Lebensmittel, wenig Geld für Sportmöglichkeiten oder Urlaube. Negativer Stress ist die Folge. Erwerbslosigkeit ist ein zusätzlicher Stressor, der ebenso, wie Armut das Immunsystem drosselt.

Gesundheitliche Ungleichheit

Und darüber muss diskutiert und vor allem gehandelt werden! Wenn eine Userin schreibt: „Worte ohne Wirkung“ hat sie vollkommen recht. Die dauerhaften viel zu niedrigen Grundsicherungen können keine Gesundheit hervorbringen. Sie bringen negativen Stress. Sie bringen Benachteiligungen und damit eine gesundheitliche Ungleichheit.

Statt wortreiche Erkenntnisse in einer Eröffnungsrede verlauten zu lassen, wäre eine Umkehr schon bei der Einführung der Agenda 2010 mit existenzsichernden Grundsicherungen möglich gewesen. Statt eine Befürwortung der Agenda 2010, hätte eine Absage an die Armutsregelsätze der Grundsicherungen kommen müssen. Damals und heute hätte Steinmeier klar sein müssen, dass zu einer stabilen Gesundheit eine finanzielle Sicherheit gehört. Nur wer diese besitzt, kann sich gesund ernähren, kann versuchen, sich einen gesunden Lebensstil einzurichten und die Kraft für seine Lebensplanung aufbringen. Nur mit dieser Sicherheit und einem existenzsicherndem Status ist es möglich seinen Kindern entsprechende Bildung zu ermöglichen, um aus der Armutsspirale herauszukommen. Ungleichheiten können nicht durch das Kratzen an der Oberfläche aus dem Weg geräumt werden. Es müssen die Ursachen beseitigt werden.

So sind die wohlgefeilschten bundespräsidialen Worte, arme Worte für jedes fünfte Kind und für über 13 Millionen Menschen, die von Armut betroffen sind. Das ist beschämend. In diesem Sinne: Einen schönen Tag!

Das Highlight der Woche 12/2023 wurde geschrieben von Inge Hannemann.

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