Man mag ja schon gar nicht mehr über unseren Finanzminister Christian Lindner (FDP) schreiben. Aber das Talent von einem chauvinistischen Fettnäpfchen ins nächste zu treten, wird es noch zu unserem Highlight des Jahres bringen. Seit Wochen mobilisieren FDP-Politiker gegen höhere Sozialleistungen und sind sich dafür nicht zu schade per se gegen Armutsbetroffene zu feuern. Erneut muss die Kinderarmut versus der Bildungs- und Erwerbsarmut ihrer Eltern herhalten. So twitterte Lindner diese Woche:
„Kinderarmut ist oft in der Bildungs- oder Erwerbsarmut der Eltern begründet. Gerade für Familien, in denen bisher kein eigenes Einkommen erzielt wird, gibt es bessere Hilfen als immer höhere Zahlungen. Insbesondere sollten wir Spracherwerb und Bildung bei den Eltern fördern, damit sie auf dem Arbeitsmarkt ein eigenes Einkommen erzielen können. CL (4. April 2023)“
Bildung versus Zahlen
Es ist keine neue Weisheit, dass eine höhere Bildung die Chance auf einen besseren oder höheren bezahlten Arbeitsplatz erhöht. Für sehr viele Fachbereiche werden Fachqualifikationen oder ein Studium benötigt. Das ist jetzt nichts Außergewöhnliches. Schon in der Antike gab es die Mathematiker, die Gelehrten oder die Architekten.
Schäbig ist es aber, dass das ewige Mantra der Kinderarmut in den Gründen ihrer scheinbar oftmals schlecht ausgebildeten Eltern liege. So zumindest nach der FDP. Und nicht weniger bedeutsam ist es, wenn unser Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD in dasselbe Sprachrohr bläst: „Im bisherigen System, im Hartz-IV-System, sind zwei Drittel der langzeitarbeitslosen Menschen ohne jegliche Berufsausbildung“. Demnach sind Erwerbslose nach außen mehrheitlich ohne Berufsausbildung. Diese Aussage bleibt für Außenstehende zementiert. Kaum jemand macht sich die Mühe und schaut in die Statistiken der Bundesagentur für Arbeit und deren Zahlen. Das ist politisch bekannt und damit wird agiert. Die FDP agiert damit, indem sie das Wort „oft“ verwendet. Heil wird ein wenig konkreter, in dem er von „zwei Drittel“ spricht. Das ist einfach zu erklären.
Heil geht von den Zahlen des Jahres 2022 aus. Als oberster Chef der Bundesagentur für Arbeit lässt er sich die Statistik erklären. Er weiß, dass die Bundesarbeitsbehörde von rund 2,6 Millionen erwerbsfähigen Arbeitsuchenden ausgeht. Die Bundesagentur für Arbeit teilt ihm mit, dass davon rund 1,7 Millionen keine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Das entspricht 66 Prozent. Heil hat also recht. Dass nur die Arbeitsuchenden gezählt werden, das wird verschwiegen.
Verschwiegen wird auch, dass knapp ein Drittel eine betriebliche Ausbildung besitzen und auch Akademiker (knapp 6 Prozent) arbeitsuchend sein können. Im Jahreswert hatten wir allerdings 3,8 Millionen Arbeitslose. Auch das zeigt die Statistik. Demnach werden 1,1 Millionen in die Berechnung der Abschlüsse nicht berücksichtigt. Wo sind sie hin, die Arbeitslosen? Diese Arbeitslosen, welche Berufsausbildungen sie auch immer haben, befinden sich in der Schule, im Studium, in ungeförderten Ausbildungen, in Erziehungszeiten, sie pflegen Angehörige, sind krankgeschrieben, sind zu alt für den Arbeitsmarkt, befinden sich in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen oder arbeiten. Und über 183.000 laufen unter „Sonstiges / unbekannt“.
Die FDP fragt nach
Aufschlussreich wird die Anfrage nach der Anzahl der Förderungen für eine berufliche Weiterbildung innerhalb der Jobcenter. Hierzu hat die Bundesregierung entweder „keine Erkenntnisse“ oder es wird ersichtlich, dass eine berufliche Förderung in 2021 nur minimal stattfand: Durchschnittlich haben rund 50.000 eine berufliche Förderung erhalten. Dabei „teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Weiterbildungsförderung eine wichtige arbeitsmarktpolitische Förderleistung ist, insbesondere für arbeitslose und geringqualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.“ Sie unterstützen mit der „Arbeitsmarktpolitik und der Weiterbildungsförderung daher insbesondere auch das Nachholen eines Berufsabschlusses und trägt damit maßgeblich zur Verbesserung von Beschäftigungschancen und zur Fachkräftesicherung bei“. Wunsch und Realität klaffen, bei rund 50.000 Förderungen, weit auseinander.
Hartz IV trotz Vollzeit-Job
Wer 2022 Hartz IV erhielt war nicht unbedingt ohne Job. Aber sie waren eine Arbeitskraft von den rund 813.000 Erwerbstätigen, die trotz Arbeit im August 2022 ihren Lohn mit Hartz IV aufstocken mussten, weil der Lohn zu gering war. Zwei Drittel davon arbeiteten in Teilzeit oder in einem Minijob. Das hält sich die Waage. Elf Prozent arbeiteten sogar in Vollzeit und rund ein Viertel war in der Ausbildung oder selbstständig.
Demnach waren von den 3,8 Millionen Arbeitslosen 21 Prozent erwerbstätig. Ergo: Jeder fünfte arbeitete neben Hartz IV. Erwähnt wird das von Lindner nicht.
Natürlich, von einem Minijob kann niemand leben. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass das Mantra der Faulheit und der Erwerbsarmut wie ein bleierner Schleier über den Erwerbslosen liegt. Beworben durch die Politik und teilweise plakativ durch die Medien verstärkt.
Doch woher kommt die Erwerbsarmut? Wer voll arbeitet, hat nicht unbedingt viel Geld im Geldbeutel. Die Branche machts. Die meisten Vollzeiterwerbstätigen waren in der Zeitarbeit, im Handel und im Verkehr/ Lager beschäftigt. Das sind Branchen, in denen die Hartz-IV-Berechtigten, trotz Vollzeitarbeit, noch zusätzlich 877 Euro (Zeitarbeit), 830 Euro (Handel) und 956 Euro (Verkehr, Lagerei) vom Jobcenter bekamen.
Es waren nicht immer die Großfamilien. Die größte Gruppe war der Single-Haushalt sowie der Haushalt mit einem oder zwei Kindern. Selbst 8.000 Alleinerziehende arbeiteten neben ihrer Familienarbeit in Vollzeit und ergänzten zusätzlich mit Hartz IV. Auch das wird von Lindner & der FDP verschwiegen.
Lindner hat also mit der Erwerbsarmut recht?
Die Erwerbsarmut liegt in diesen Fällen in den Löhnen und in den Gehältern begründet. Sie liegt darin begründet, dass sich Unternehmen darauf verlassen können, dass ihre mickrigen Löhne mit Sozialleistungen aufgestockt werden. Wenn ich als alleinstehende Person in Vollzeit arbeite und ergänzend Hartz IV erhalte, ist der Lohn zu niedrig und nicht die Berufsausbildung zu schlecht. Es mangelt nicht an den Gründen, die in der Person liegen, sondern es mangelt am Respekt und an der schlechten Zahlungsmoral der Unternehmen.
Es ist erschreckend und abstoßend zu gleich, wenn FDP-Politiker bewusst die Schuldzuweisungen auf die Eltern transportieren, die nachweislich ihre Kraft in Unternehmen stecken, um ihren Kindern vorzuleben, dass sie nicht nur von Sozialleistungen leben wollen. Dass sie dafür ausgenutzt werden, ist weder ihre „Schuld“, sondern dem System geschuldet, welches die niedrigen Löhne zulässt. Statt den Unternehmen den Kampf anzusagen, stellt sich ein Finanzminister lieber hin und twittert in aller Verantwortungslosigkeit, dass die Eltern bildungsfern und erwerbsarm sind. Medial sollte dem faktenbasiert widersprochen werden.
Auf dem Niveau vom Bürgergeld zu leben, bedeutet immer materielle Armut. Es ist ein Leben auf dem Drahtseilakt. Wenn wir von Kinderarmut sprechen, müssen wir von Elternarmut sprechen. Wir müssen von mehr Geld sprechen und wir müssen davon sprechen, dass rund jeder fünfte Erwerbslose erwerbstätig ist. Dass wir Unternehmen haben, die sich darauf ausruhen, dass ihre mickrigen Löhne durch Steuergelder aufgestockt werden. Und wir müssen darüber sprechen, dass eine FDP bereit ist, die Eltern-, und Kinderarmut vollständig zu ignorieren und der Gesellschaft zum Fraß vorzuwerfen, um ihren eigenen chauvinistischen und neoliberalen Gedanken treu zu bleiben. Das ist weder liberal noch sozial. Das zementiert die derzeitige Armut und möglicherweise Generationen danach. In diesem Sinne: Einen schönen Tag!
Das Highlight der Woche wurde geschrieben von Inge Hannemann.
Quellen: Strukturen der Grundsicherung SGB II – März 2023 (Berufsausbildung, Blatt 5): https://statistik.arbeitsagentur.de/SiteGlobals/Forms/Suche/Einzelheftsuche_Formular.html?nn=1460284&topic_f=zeitreihekreise-zr-gruarb
Erwerbstätige erwerbsfähige Leistungsberechtigte – Deutschland – November 2022 – https://statistik.arbeitsagentur.de/SiteGlobals/Forms/Suche/Einzelheftsuche_Formular.html?topic_f=einkommen