Justitia

„Als der Gerichtsbescheid vor mir lag wusste ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Beim Lesen, habe ich mich gefragt, wo der „Geist“ unseres Grundgesetzes geblieben ist“, resümiert Kläger Thomas Wasilewski. Rückblick Sommer 2022: Die Inflation steigt und mit ihr die Lebensmittel- und Energiepreise. Wer wenig Geld hat, spürt es im Geldbeutel. Und wer noch weniger Geld hat, spürt es noch mehr. Wasilewski spürt es. Er und seine Familie beziehen zu diesem Zeitpunkt Hartz IV. Heute nennt es die Politik das Bürgergeld. Wasilewski geht es nicht anders als rund sieben Millionen Sozialleistungsbezieherinnen und Bezieher zu diesem Zeitpunkt. Egal, ob es jetzt Hartz IV heißt oder Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung ist. Arm sind sie alle. Und doch setzt er sich irgendwie ab. Er klagt. Er klagt im Sommer 2022 stellvertretend mit rund einem Dutzend weiterer Betroffenen in einem Musterstreitverfahren mit Hilfe des VdK und dem SoVD für eine höhere Sozialleistung. Und das hat seinen Grund. Wasilewski weiß, dass das sozio-kulturelle Existenzminimum mehr als eine physische Existenz sein muss:

„Als armer Familienvater begegnen mir in der Stadt immer mehr obdachlose Bettler. Wie zwei Millionen andere Menschen stehe ich regelmäßig bei der Tafel Schlange. Im Radio höre ich, dass die Familienministerin die Kinder aus der Armut holen wird. Die Parteivorsitzende einer Regierungspartei sagte unverblümt: „Regelsätze müssen zum Leben reichen, das ist noch nicht geschafft.“ Mantraartig fordern Kirchen, Sozialverbände und Gewerkschaften höhere Regelsätze.“

Hartz IV passt sich nicht der aktuellen Preisentwicklung an

Wenn aber nicht mal mehr die Sozialleistung den Lebensunterhalt sichert, dann läuft etwas gewaltig schief. Es scheint der Lauf der Geschichte zu sein, dass mit jeder Erhöhung der Sozialleistung, jemand um die Ecke kommt, um diese als zu hoch zu deklarieren. Im Jahr 2022 war es die Regierung selbst, die den Armen gerade mal 0,76 Prozent mehr gönnte. Wasilewski hätte sich mit drei Euro plus nun ein ¾ mehr Brot kaufen können oder zusätzlich drei Packung Nudeln. Die Kinderaugen leuchteten auf, wenn sie für zwei Euro anderthalb mehr Eiskugeln bekommen haben. Wer kein Eis mag, hätte sich auch zusätzlich zwei Packungen Reiswaffeln kaufen können. Die Feinheiten liegen jedoch im Detail. Mehr Geld fordern, das wäre zu einfach. Auch für die Sozialverbände. Es geht um’s Ganze. Man hat die Bundesregierung und deren verfassungsgemäßen Auftrag im Blick. Das schwarze Loch tut sich auf. Die Sozialverbände bohren in der Wunde. Und so argumentieren sie auch entsprechend, was Wasilewski zusammenfasst:

„Die sehr gut begründete Musterklage der beiden Sozialverbände bezog sich auf die Regelsätze des Jahres 2022. Teil der Begründung war das Gutachten von Dr. Irene Becker. Verkürzt gesagt kommt das Gutachten zu dem Ergebnis, dass die Teuerung 2022 nicht ausgeglichen wurde und die Hartz-IV-Empfänger unter das Existenzminimum rutschten.“

Der Gesetzgeber muss auf Preisentwicklung zeitnah reagieren

Weit unten in Süddeutschland gibt es den malerischen Ort Karlsruhe. Schon Goethe wusste um diesen Ort, als er zwischen 1775 und 1815 immer wieder mal auf Stippvisite vorbeischaute. Heute ist Karlsruhe unter anderem der Sitz für das Bundesverfassungsgericht. Das Bundesverfassungsgericht machte 2010 unmissverständlich deutlich, dass zur Arbeitslosengeld-II-Regelsatzhöhe (Hartz IV) auch die Teilhabe an sozialen und kulturellen Aktivitäten bestehen muss. 2014 bekräftigte das Bundesverfassungsgericht das Urteil aus 2010 (BVerfG 1 BvL 10/12 Rn. 144): „Ergibt sich eine offensichtliche und erhebliche Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigten Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter, muss der Gesetzgeber zeitnah darauf reagieren. So muss die Entwicklung der Preise für Haushaltsstrom berücksichtigt werden. Ist eine existenzgefährdende Unterdeckung durch unvermittelt auftretende, extreme Preissteigerungen nicht auszuschließen, darf der Gesetzgeber dabei nicht auf die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen warten.“

Sozialleistungen müssen demnach zeitlich angepasst werden. Unsere Einkäufe im letzten Jahr mussten wir zu Beginn mit fünf Prozent Inflation ausgleichen. Diese stieg auf sieben Prozent im Laufe des Jahres an. Energiekosten stiegen auf über 20 Prozent an. Sozialleistungsberechtigte bekamen 0,76 Prozent mehr. Doch die Preise explodierten und Wasilewski zeigt Zähne.

Sozialgericht sagt Nein

Das Düsseldorfer Sozialgericht biss nun zurück. Es wies die Klage Anfang März 2023 ab. Die hohe Inflationsrate und die dadurch reduzierte Kaufkraft konnten sie nicht ignorieren. Trotzdem folgerten sie daraus, dass keine Verfassungswidrigkeit bestehe. Stattdessen bezieht man sich auf die neuesten Erhöhungen beim Bürgergeld von rund 10 Prozent und begründet damit einen aktuellen Inflationsausgleich. Für das Gericht mag es im nächsten Schritt schlüssig erscheinen, wenn sie argumentieren, dass Gering- und Normalverdiener nicht über ein wesentlich höheres Einkommen verfügen als Sozialleistungsbezieher. Das gelte insbesondere für Familien in Großstädten, und sie keinen Inflationsausgleich erhielten. Daraus folgt deren Befürchtung, in derer sie „eine Gefahr darin sehen, dass breite Schichten der Bevölkerung ihre Arbeit aufgeben und von Sozialleistungen leben wollen“. Jetzt stellen wir uns mal vor, die Menschen geben ihre Arbeit für das Bürgergeld auf. Keiner arbeitet mehr. Die Arbeitsagenturen und Jobcenter sind gezwungen mehr Personal einzustellen, um die Antragsflut zu bewältigen. Und wenn das alles passiert ist, dann ist unser „Sozialstaat gefährdet, da dieser letztendlich von der Arbeit der Menschen finanziert wird“. Und das „wiederum würde dem Sozialstaatsprinzip massiv widersprechen“, argumentiert das Sozialgericht weiter. Panik bei Gericht. Wasilewski sieht es nüchterner:

„Die Erwägungen des Sozialgerichts Düsseldorf halte ich für sachfremd“, fügt aber hinzu: „Dass ein Sozialgericht in der Bundesrepublik Deutschland die Vermutung äußert, dass wegen des „viel zu hohen“ Bürgergeldes niemand mehr arbeiten will, hatte ich bis dahin für unmöglich gehalten. Niemals hätte ich gedacht, dass ein Sozialgericht so argumentieren würde.“

Das Sozialgericht erläutert weiter: „in einer ärmer werdenden Gesellschaft müssen auch die Sozialleistungsbezieher mit weniger auskommen“.

Wer schon fast nichts hat, kann nur noch hungern. Ein armer Mensch muss sich in Teilen zwischen Essen oder Strom entscheiden.

Klageschrift

Das Sozialstaatsprinzip

Es ist paradox, dass ein Sozialgericht unser Sozialstaatsprinzip und dessen Stabilität auf die Sozialleistungsbezieher abwälzt. Unser Sozialstaatsprinzip manifestiert sich auf die Sicherstellung des sozio-kulturellen Existenzminimums. Ein menschenwürdiges Existenzminimum ist ein Grundrecht welches sich aus „der Menschenwürde-Garantie des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip“ ergebe, stellte der damalige BVerfG-Präsident Hans-Jürgen Papier 2010 in seinem Urteil zum Hartz-IV-Regelsatz fest. Aus dieser Sicht heraus, sollte jede oder jeder Steuerzahler sich darauf verlassen können, dass ihm existenzsichernde Sozialleistungen zukommen, sofern sie benötigt werden. Dieses Existenzminimum darf nicht von einer Judikative unterbunden werden, da es unverfügbar ist. Unverfügbar heißt, es darf auf keinen Fall unterschritten werden. Oder wie es Wolfgang Neskovic (Richter am Bundesgerichtshof a.D.) ausdrückte:

„Das physische und psychische Überleben der Mitglieder in einer Gesellschaft ist Grundvoraussetzung für die Wahrnehmung ihrer bürgerlichen Freiheiten. Wir diese Grundlage nicht garantiert, sind alle übrigen Rechte für die Betroffenen kaum das Papier wert, auf dem sie stehen. Die Freiheitsgarantie des Grundgesetzes wird so zum Recht, unter Brücken zu schlafen“.

Es ist gut, dass der VdK und Wasilewski sofort in die Berufung gegangen sind. Wasilewski geht von einem sehr langen Prozess aus. Ich neige dazu, ihm Recht geben zu müssen. Die Ignorierung der BVerfG-Urteile aus den Jahren 2010 und 2014 durch das Sozialgericht zeigen es. Mit der Inflation und der Kaufkraftverlust wird das Existenzminimum unterschritten. Weiter gehe ich davon aus, wenn Wasilewski vor dem Bundesverfassungsgericht ist, dass erneut das BVerfG-Urteil aus dem Jahr 2012 herausgeholt wird:

„Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss.“ (BVerfG, 1 BvL 10/10 v. 18.07.2012, AsylbLG, Abs. Nr. 120)

Denn, …

“Denknotwendig ist ein Existenzminimum schon ein Minimum dessen, was ein Mensch benötigt, um in Würde zu leben” (unbekannt).