Ein letzter Blick über die schier endlosen Zeilen der Exceltabelle: Die übernommenen Zahlen in das Computersystem für die Einkommensberechnung stimmen. Kein Zahlenverdreher. Kein Komma an die falsche Stelle gesetzt. Keinen Posten vergessen.
Ein Klick und das neu berechnete ergänzende Bürgergeld ist reif für die Auszahlung am Ende des Monats. Der Taschenrechner und die Excellisten sind bis heute ein fester Bestandteil einer Jobcenter-Software, die vieles kann, aber nicht erwachsen werden darf.
„Die Kolleg*innen mussten mit einer Schrott-Software arbeiten, die unter anderem nicht in der Lage war, Kontonummern zu erkennen, das musste dann alles per Hand gemacht werden, Fehler waren dabei vorprogrammiert. Dabei war von Anfang an bekannt, dass diese Software nicht weiterentwickelt werden konnte. Ein Problem sind die Aufstocker*innen: Bis heute machen wir die Einkommensberechnungen teilweise in Exceltabellen, weil die Software das nicht kann“, kritisiert Katharina gegenüber ver.di.
Katharina: Seit 2011 im Jobcenter
Katharina ist seit 2011 Jobcenter-Mitarbeiterin in der Leistungsabteilung in Hannover. Im Rahmen der „Tarifrunde im öffentlichen Dienst 2023“ berichtet sie gegenüber ver.di von ihrem Alltag im Jobcenter.
Selten sprechen Jobcenter Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter offen über ihren Alltag und noch seltener üben sie öffentlich Kritik an Etwas.
Es braucht dafür schon eine gewisse Kühnheit und in diesem Fall, die offensichtliche Präsenz einer Gewerkschaft als Rückendeckung.
Die unausgereifte Software in den Jobcentern ist temporär immer wieder Thema. Für die Mitarbeiter eine tägliche neue Herausforderung.
Katharina erzählt weiter. Sie erzählt aus ihrer Vergangenheit. Das „es schon 2011 viel zu wenig Personal gab, fünfzig bis sechzig Wochenstunden nicht ungewöhnlich waren, dass sie keine Einarbeitung hatte und großes Chaos herrschte“. Ich recherchiere und stoße auf ein Zitat aus 2014 gegenüber „Deutschlandfunk Kultur“ von mir selbst: „Aber viele Jobcenter-Mitarbeiter sind gestresst, die stehen unter Druck aufgrund des Arbeitsaufwandes“. Der Alltag und das Drumherum in einem Jobcenter sind schwer zu verstehen. Das spüren hauptsächlich die Leistungsberechtigten, wenn sie zum ersten Mal einen Antrag ausfüllen, einen Leistungsbescheid erhalten oder eine „Einladung“ zu einem persönlichen Gespräch erhalten. Was dahinter steckt, kann kaum gesehen werden, sofern man nicht alle Rechtsbücher und deren dazugehörigen Kommentare im eigenen Bücherregal stehen hat. Rechtsanwälte, Erwerbslosenberatungen, Sozialverbände und Katharina können ein Lied davon singen.
„Das Sozialgesetzbuch II, nach dem wir arbeiten, ist sehr komplex. Allein die bundesweiten Ausführungsvorschriften zum Gesetz haben rund 2000 Seiten, hinzu kommen die Anweisungen der Kommune und der Geschäftsleitung und ständige Änderungen. Und ja: Man braucht auch darüber hinaus juristisches Wissen: Verwaltungsrecht, Mietrecht, Arbeitsrecht, Familienrecht, Ausländerrecht oder von allem etwas.“
Katharina stellt fest, dass für die Arbeit in einem Jobcenter juristisches Wissen, über das Sozialgesetzbuch II hinaus, Grundlage sein sollte. Dass sie damit nicht alleine steht, stellte auch 2014, Stefan Graaf (Geschäftsführer Jobcenter „StädteRegion Aachen“) im Interview dar:
“Wir haben in Deutschland einen Sozialdschungel, den teilweise schon Experten nicht mehr beherrschen. Die Anforderungen an die Mitarbeiter sind in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich gestiegen. Selbst wenn wir Juristen einstellen, die gut qualifiziert sind, brauchen die locker ein Jahr, um die Standardsachbearbeitung richtig hinzubekommen. Noch viel schwieriger ist das für die vielen Kollegen, die Quereinsteiger sind.“
Und bis heute wird dieser Komplexität nicht entsprochen, wenn Katharina acht Jahre später erneut feststellt, „dass es im Jobcenter kaum ausgebildete Verwaltungsfachangestellte gibt“. So berichtet sie von einem Tennislehrer, der vom ersten Tag an voll eingesetzt wurde. Ihr Fazit: „Nicht selten herrscht auf beiden Seiten des Schreibtisches hoher Druck.“
Die Arbeitsbelastung ist hoch
Im Interview wird deutlich, dass der hohe Arbeitsaufwand mit den immensen Kundenkontakten korreliert. Die Jobcenter-Mitarbeiterin erkennt, dass der Arbeitsaufwand und die Not der Menschen nicht zueinander passen. So treffen Existenznot, psychische Erkrankungen oder Extremzustände auf einen Mitarbeiter, „der vielleicht selbst am Rande seiner Nerven ist“. Lesen, suchen, erklären, recherchieren, Entscheidungen rechtfertigen, Lösungen finden, Tippen, Taschenrechner unter den Exceltabellen finden und Sitzungen absitzen: Das beschreibt den Alltag von Katharina.
Beim Lesen spüre ich mich in die Vergangenheit zurückversetzt. In den Alltag meiner damaligen Zeit im Jobcenter. Immer mit den Fragen im Hinterkopf: Wann überrennt mich die Bürokratie? Wie soll ich den ganzen Arbeitsanweisungen, Arbeitshilfen, Gesetzen, Bestimmungen und Anforderungen gerecht werden, um den Menschen, der Hilfe benötigt, nicht zu verlieren? Katharina fragt sich das auch, wenn sie ein Mietangebot bekommt, welches fast doppelt so hoch ist wie erlaubt.
Sie muss sich zunächst auf den „Stand bringen”, bei ihren Kollegen nachfragen, der die Leistungsberechtigten laufend „betreut“, um dann ihre Entscheidung zu rechtfertigen. Insbesondere vor ihrem Dienstherr. Ihre Entscheidung muss „angemessen“ sein. „Angemessen“ sein, heißt, dass ihr schriftlicher Bescheid weder vom Chef noch vom „Kunden“ angefochten und sie selbst nicht haftbar gemacht werden kann.
Katharina reflektiert: Um mit den Vorurteilen gegenüber Erwerbslosen aufzuräumen, spricht sie von 60 Prozent ihrer Bezieherinnen und Bezieher, die in einem Minijob oder in anderen Jobs arbeiten und ihr Bürgergeld damit aufstocken. Und mit „90 Prozent ihrer „Kunden“ kommt sie super aus.“ Es herrsche ein gutes Vertrauensverhältnis und sie höre öfters: „Danke, dass Sie da waren“.
Katharinas Forderungen
Für die Zukunft wünsche sie sich eine attraktivere Verwaltung und spricht die schlechten Arbeitsbedingungen an. Sie erzählt von 1.900 Euro netto Verdienst, von Kollegen, die selbst mit Bürgergeld aufstocken, von ständigen Befristungen, fehlenden Aufstiegschancen und hohem Anspruchsdenken der Arbeitgeberseite. Wer jedoch ein Studium in BWL oder Jura hat, geht in die freie Wirtschaft, weil die Menschen dort „etwas Besseres finden“. Am Ende resümiert sie, dass auch viele Verwaltungsfachkräfte aufgrund der hohen Arbeitsbelastung wieder gehen. Ihre Forderung: Gute Ausbildung, faire und gute Bezahlung. Aufstiegschancen und Förderung der Mitarbeiter. „Wenn wir das erreicht haben, arbeite ich im Paradies.“
Fazit
Beim Lesen des Interviews habe ich mich im ersten Moment gefreut. Wieder eine Jobcenter-Mitarbeiterin, die Aussagen von anderen Mitarbeitern und mir bestätigt. Im zweiten Gedankengang fand ich es sehr traurig, dass sich seit 2005 nichts geändert hat. Im Jahr 2005 schossen die Jobcenter aus dem Boden. Der Beginn startete mit einer Software, die nicht funktionierte. Das begleitete mich über die ganzen Jahre hinweg. Wenn ich heute am Montag in einem Jobcenter oder in einer Arbeitsagentur anrufe, um eine Frage für Leistungsberechtige zu klären, lautet meine erste Frage: „Hattet ihr/ Sie am Wochenende wieder ein Software-Update? Läuft euer Programm?“
Hierzu muss man wissen, dass die Updates der Software über Nacht und gerne am Wochenende laufen – immer mit der Hoffnung, dass am Folgetag gearbeitet werden kann. Das klappt nicht immer. Wie viele Stunden saß ich vor einem schwarzen Bildschirm. Ich weiß es nicht mehr. Und ja, der Taschenrechner. Das A & O in der Leistungsabteilung. Wie kann es sein, wir befinden uns im Jahr 2023, dass Berechnungen über den Taschenrechner vollzogen werden müssen? Wir können eine Pi-Zahl softwaretechnisch bis fast ins Unendliche berechnen. Aber ein außerordentlicher Hinzuverdienst benötigt einen Taschenrechner.
Der Arbeitsalltag in einem Jobcenter, ob nun Leistung oder Integration, ist überfüllt mit Gesetzen, Weisungen, Liebesbriefen aus Nürnberg, Arbeitshilfen und sonstigem Kram. Das sollte gelesen werden. Nur wann? Es sollte verstanden werden? Nur wie, ohne Schulung? Gleichzeitig stehen einem Leistungsberechtigten nur rund 30 Minuten für ein Gespräch mit der „Verwaltungskraft“ zur Verfügung. In Ausnahmefällen etwas mehr. Hier werden i.d.R. die Basics abgefragt:
- „Was haben Sie bisher gemacht?”
- “Wie oft haben Sie sich beworben?”
- “Haben Sie sich um die Kinderbetreuung gekümmert?”
- “Was macht Ihre Gesundheit?“
Oftmals bleibt für anderes keine Zeit. Das liegt nicht an den Mitarbeitern. Wer nicht mehr Zeit bekommt, kann nicht mehr Zeit verwenden. Wer keine Schulung erhält, muss sich privat schulen. In der Freizeit. Am Abend, am Wochenende. Zu Hause. Irgendwie, auf eigene Kosten. Dann wäre eine adäquate Fachberatung sichergestellt. Kann eine eigene umfassende Kompetenz im Rechtswissen in der Freizeit verlangt werden? Ich sage eher nein. Muss das verlangt werden? Nein. Muss das die Arbeitgeberseite bringen? Ja! Und daran hapert es scheinbar immer noch. Ich stelle mir gerade vor, dass Tennislehrer als Anwälte eingesetzt werden. Das würde keine Anwaltskanzlei umsetzen. Auch in der freien Wirtschaft hat man als Nicht-Fachkraft zumeist keine Chance. Die Folgen der Rechtsunsicherheiten in den Jobcentern kennen wir: Falsche Bescheide, Widersprüche, Klagen, Frust auf beiden Seiten. Für die Leistungsberechtigten sind das höchste nervliche Belastungen und oftmals in der Zeit kein Geld. Die Folge daraus sind berechtigte Existenzängste.
Gesetz nicht brechen, aber biegen
Es gibt immer zwei Seiten. In der Außenwelt, besonders in den sozialen Netzwerken, lesen wir mehr die Kritik und die Empörung, was nicht funktioniert. Gewollte Willkür möchte ich hier nicht beschönigen. Dazu ist die Schreibtischseite der Behörde einfach zu stark, und der Mensch dahinter vielleicht zu schwach, um diese Macht nicht auszunutzen. Trotzdem befinden wir uns im Jobcenter auf einer Gradwanderung zwischen Gesetzen, der Masse an Arbeitsweisungen und der Sozial-Rechtskomplexität und den Menschen, den geholfen werden muss. Die Mitarbeiter im Jobcenter dürfen keine Gesetze brechen, sie dürfen sie aber biegen.
Als Beispiel nehme ich immer gerne den Zumutbarkeitsparagrafen 10 SGB II:
Einer erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person ist jede Arbeit zumutbar, es sei denn, dass sie zu der bestimmten Arbeit körperlich, geistig oder seelisch nicht in der Lage ist, (…)
Nehmen wir mal an, jemand soll sich als Lagerhelfer oder Produktionshelfer,-helferin bewerben. Der jemand hat nun aber Rücken. Ist ja nicht selten. Der jemand sagt im Jobcenter: „Ich habe Rücken“. Diese Aussage alleinstehend ist natürlich zu wenig.
Die sagt nichts aus und kann nur durch ein fachärztliches Attest belegt werden. Selbiges gilt für psychische Erkrankungen. Liegt etwas vor, breche ich kein Gesetz, wenn ich nicht jede Arbeit als zumutbar deklariere.
Ich biege es im Sinne der Leistungsberechtigten, weil es deren Gesundheitszustand entspricht, wenn ich in diesem Moment keinen Vermittlungsvorschlag als Lager-, oder Produktionshelfer versende. Das bedeutet mehr Zeitaufwand.
Warum? Dazu muss ich mir den Lebenslauf nochmals extra anschauen. Ich muss über den Gesundheitszustand zumindest ein wenig Bescheid wissen (mir ist bewusst, dass viele darüber nicht reden) und ich kann Vermittlungsvorschläge nicht „blind“ versenden, da ich den Gegencheck machen muss, ob der Vermittlungsvorschlag wirklich in allen Belangen (körperlich, geistig, psychisch) passt.
Nun kommt das Vakuum der Zeit
Ist die Zeit dafür vorhanden? Oftmals leider nicht. Die Bürokratie, das Lesen der Schriften, die neuen Ideen aus Berlin und die internen Begebenheiten (Sitzungen, Erkrankungen, Personalmangel) sprechen dagegen. Das sind keine Entschuldigungen für Absagen an Darlehen, die z.B. gegeben werden müssen (weiße Ware), wenn es keine anderen Möglichkeiten gibt. Es sind keine Entschuldigungen für das Zurückhalten von Geldern, wenn die E-Akte mit der Post von Leistungsberechtigten und deren Nachweise über eine Woche nicht geöffnet wird. Und es sind keine Entschuldigungen für Absagen an das Nachholen von Schulabschlüssen für junge Menschen, weil man keine Lust hat, sich darüber zu informieren. Und noch weniger sind es Gründe für das Ignorieren von Berufs-, oder Uniabschlüssen der Leistungsberechtigten, um die eigene Vermittlungsstatistik aufzuwerten.
Aber es sind Gründe der Überlastung und der zu geringen Zeit, um die Menschen hinter der Erwerbslosigkeit als ganzheitlichen Menschen zu sehen. Ich sehe noch immer im System Hartz IV / Bürgergeld, dass die Leistungsberechtigten auf diese Art und Weise Zahlen-, und Gesetzesobjekte sind, die irgendwie abgearbeitet werden müssen, damit es für die Jobcenter-Mitarbeiter rechtssicher ist.
Eine positive Veränderung kann es nur geben, wenn mehr Zeit für die Menschen vorhanden ist und die Bürokratie abgebaut wird. Zeit, damit die Menschen hinter den Zahlen und den Vorgaben gesehen und verstanden werden. Jede und jeder Leistungsberechtigte in einem Jobcenter ist eine Persönlichkeit und bringt seine Geschichte mit. Je länger die Erwerbslosigkeit ist, umso länger ist die eigene Geschichte und umso länger ist sie von der Struktur des “Fördern und Fordern” geprägt. Sie ist von Vorgaben, von Zwängen, von Gesetzen und von der begleitenden dauerhaften Armut geprägt. Vielleicht ist sie auch davon gekennzeichnet, dass eine Bevormundung stattgefunden hat. Dass Rassismuserfahrungen gemacht wurden sind, Ausgrenzungen stattgefunden haben und dass das eigene Wort nicht mehr gilt oder galt. Diese Verwundungen sind hausgemacht: Durch die Gesetzgebung des Sozialgesetzbuches II. Und hier gilt es neu anzusetzen mit eben mehr Zeit und dem Bürokratieabbau.
Am Ende wird Katharina politisch, wenn sie sagt: „Es wird von der Politik ein Klima geschaffen, das dazu führt, dass Konflikte sehr schnell eskalieren“. Damit spricht sie den „Schnellschuss“ des Bürgergeldes an, welches aus ihrer Sicht „entweder im Chaos endet oder massiv auf die Gesundheit von Kolleg*innen“ geht. So gab es „keine Zeit zur Vorbereitung und die Software kann nicht rechtzeitig umgestellt werden“. Es sind Aussagen, die intern ebenso zu Frust führen, wie außerhalb. Da wundert einem die Fluktuation nicht wirklich. Fast könnte man meinen, dass der Personalmangel ein stiller Widerstand gegen das System ist. Wer sich nicht auf eine Stelle im Jobcenter bewirbt, gerät nicht in deren aufreibenden Mühlen. In diesem Sinne: Einen schönen Tag!
Das Highlight der Woche 13/2023 wurde geschrieben von Inge Hannemann.